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Botox
Kaum einer von Hollywoods Celebrities oder den Tausenden Anwendern hierzulande, die sich das Verjüngungselixier injizieren lassen, um allzu tiefe Stirnfalten oder Krähenfüße an den Lidwinkeln zu eliminieren, verschwendet wohl einen Gedanken an die Herkunft dieser Stütze der kosmetischen Chirurgie oder an deren vielfältigen Nutzen in der Praxis.
Botox ist ein Gift - und zwar ein denkbar starkes. Unter anaeroben, also sauerstofffreien Bedingungen produzieren die stäbchenförmigen Bakterien der Spezies Chlostridium botulinum dieses stärkste in der Natur vorkommende Toxin. Berüchtigte Botulinum-Brutstätten sind Fleisch- und Wurstprodukte oder unsauber abgefüllte Konserven: Wer solche verdorbenen Lebensmittel isst, kann durch eine Lähmung der Atemmuskulatur sterben, wenn nicht rechtzeitig ein Gegenmittel gespritzt wird. Sieben Varianten des Botulinumtoxins lassen sich immunologisch unterscheiden: Nur die als A, B, E und F bezeichneten Toxine sind beim Menschen wirksam.
Unterschiedlichste Anwendungen
Das tödliche Gift hat aber durchaus positive Seiten. Seit etwa zwanzig Jahren wird das Botulinumtoxin auch jenseits des Schönheitswahns in der Medizin eingesetzt. Seine Fähigkeit, über die Blockade der Nervenzellen Muskeln zu lähmen, lässt sich therapeutisch nutzen, indem es in stark verdünnter Konzentration in jene Muskulatur injiziert wird, deren Tonus man abschwächen will, weil er auf krankhafte Weise erhöht ist.
Doch damit sind die Möglichkeiten des Wirkstoffs längst nicht erschöpft. Der amerikanische Neurologe Mitchell Brin gerät über das Toxin geradezu ins Schwärmen: "Je mehr wir seine Wirkung verstehen, desto mehr neue Ideen zu seiner Anwendung kommen uns." Es gebe wohl kein Medikament auf der Welt, das sich bei so vielen unterschiedlichen Anwendungen bewährt habe. Brins Begeisterung ist nicht ganz selbstlos, er ist Chefwissenschaftler des amerikanischen Pharmakonzerns Allergan, für den das Bakteriengift zum Goldesel wurde. Allergan dominiert mit seinem Produkt Botox und einem Marktanteil von 83 Prozent deutlich das Geschäft mit dem Botulinumtoxin. Im vergangenen Jahr wurde damit weltweit ein Umsatz von 1,3 Milliarden Dollar erzielt, zur Hälfte mit kosmetischen Anwendungen. Die andere Hälfte birgt noch erhebliches Wachstumspotential: Allergan hat bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA die Zulassung von Botox für nicht weniger als 90 Indikationen beantragt.
Ein krampflösendes Mittel
Weltweit ist das Gift bislang für die Behandlung von 16 Krankheitsbildern zugelassen. Doch der sogenannte Off-Label-Gebrauch ist inzwischen auch bei anderen Indikationen üblich. Und fast täglich erscheinen Fachartikel, die in optimistischem Ton neue Anwendungen beschreiben und weitere Einsatzgebiete propagieren. In Deutschland sind zurzeit fünf Botulinumtoxin-Präparate erhältlich. Neben dem Botox-Produkt des Herstellers Allergan enthalten die Präparate Xeomin (Merz), Dysport (Ipsen) und Vistabel (Allergan) das Botulinumtoxin A, Neurobloc (Solstice/Eisai) enthält dagegen Botulinumtoxin B.
Die meisten Erfahrungen konnten Mediziner inzwischen bei der Behandlung einer bestimmten Form des Lidkrampfes sammeln, des sogenannten benignen essentiellen Blepharospasmus. Dabei handelt es sich um unwillkürliche Kontraktionen des die Augenregion umgebenden Musculus orbicularis oculi. In schweren Fällen kann diese Zwinkerneigung so ausgeprägt sein, dass der Patient die Augen gar nicht richtig öffnen kann und praktisch blind ist. Das Botulinumtoxin löst solche Krämpfe, weil es die Kommunikation zwischen Nerven- und Muskelzellen unterbindet. In den Neuronen wird dabei ein Proteinkomplex namens SNARE (soluble N-ethylmaleimide-sensitive fusion attachment protein receptor) zerstört, der für Freisetzung von Botenstoffen in den synaptischen Spalt zuständig ist. Dadurch wird das Signal unterbrochen, und der Muskel verliert seine Krampfneigung.
Krampfleiden sind bislang das wichtigste Anwendungsgebiet für das Clostridiengift. Dazu zählen beispielsweise sogenannte Blepharo- und Hemifazialspasmen im Kopf- und Halsbereich. Außerdem setzen Ärzte das Toxin heute bei der zervikalen Dystonie ein, einer Kopfzwangshaltung, die durch tonische Kontraktionen einiger Halsmuskeln hervorgerufen wird; je nach Schweregrad können Injektionen in bis zu zehn unterschiedliche Muskeln erfolgen. Und HNO-Spezialisten spritzen die Substanz bei Bewegungsstörungen der Kehlkopfmuskulatur.
Anwendung bei Heuschnupfen
Allerdings mussten Versuche, auch das Stottern mit Botulinumtoxin zu behandeln, aufgegeben werden. Bei dieser Sprachstörung ist das Zusammenspiel der verschiedenen beteiligten Muskelpartien im Kehlkopf, in den Lippen und in der Zunge zu komplex, als dass es sich mit Injektionen korrigieren ließe.
Bei einem regelrechten Volksleiden könnte sich das Gift allerdings bewähren: Die Symptome der allergischen Rhinitis, besser bekannt als Heuschnupfen, kann Botox lindern. Dafür werden einige Einheiten des Giftes in die Schleimhaut der mittleren und unteren Nasenmuschel gespritzt; das Leitsymptom der Rhinorrhoe, die triefende Nase, ließ sich so in mehreren Studien verbessern.
Die Tatsache, dass Botulinumtoxin nicht nur auf die Muskulatur, sondern über eine Blockade der Freisetzung von Acetylcholin auch auf Drüsen wirkt, macht sich die Medizin bei einigen Krankheiten zunutze, bei denen mehr produziert und sekretiert wird, als gesund, angenehm oder sozial akzeptabel ist. Bei der Hyperhidrose zum Beispiel schwitzen Betroffene exzessiv - mit allen Konsequenzen für das menschliche Miteinander. Zur Behandlung solcher Extremfälle wird Botulinumtoxin in die Achselhöhle sowie in Hand- und Fußflächen injiziert. Eine europäische Studie mit 320 Patienten zeigte, dass sich nach vier Wochen der Schweißfluss um durchschnittlich 83 Prozent reduziert hatte. In einer amerikanischen Untersuchung erlebten vier von fünf Patienten eine Schweißreduktion von mindestens 75 Prozent.
Auch bei einer anderen exzessiven Form des Schwitzens, dem sogenannten Frey-Syndrom, könnte das Clostridiengift helfen. Betroffene erleiden beim Essen heftige Schweißausbrüche, die mit einer starken Gesichtsrötung insbesondere in der Nähe zu den Speicheldrüsen einhergehen. Eine aktuelle niederländische Studie, die 22 Patienten mit diesem an sich ungefährlichen, aber das soziale Leben erheblich einschränkenden Leiden einbezog, belegt die Wirksamkeit von Injektionen mit dem Präparat Dysport. Der schweißüberströmte Anteil der Gesichtsoberfläche konnte auf diese Weise drastisch verringert werden.
Sogar gegen Übergewicht
Zur Therapie der Hyperhidrose wird das bakterielle Toxin wie bei kosmetischen Anwendungen zur Faltenglättung mit dünnen Nadeln wenige Millimeter tief in die Haut oder direkt darunter gespritzt. Doch es gibt inzwischen auch invasivere Eingriffe: Gastroenterologen injizieren Botulinumtoxin während einer Endoskopie beispielsweise dann, wenn ein Patient an Achalasie, einer Funktionsstörung der Muskulatur der Speiseröhre, leidet und ein chirurgischer Eingriff nicht möglich ist. Auch bei spastischen Erkrankungen der Speiseröhre und bei Funktionsstörungen des kleinen Schließmuskels am Ende des Bauchspeicheldrüsenganges kommt das Toxin zum Einsatz.
Noch ein anderer Therapieansatz könnte sich bald großer Nachfrage erfreuen: An mehreren klinischen Zentren setzen Ärzte erstmals Botulinumtoxin gegen Übergewicht ein. Für diese Form der Behandlung wird ein Endoskop in den Magen eingeführt, und die am Kopf des Gerätes befindliche Nadel injiziert den Wirkstoff an bis zu zwei Dutzend Stellen in die Muskulatur des Antrums. Dabei handelt es sich um jenes Magensegment, das für die Peristaltik, also die Weiterbewegung der Speisen Richtung Dünndarm, verantwortlich ist. Die vorübergehende Lähmung oder Schwächung dieser Muskeln soll den Transport verlangsamen und gleichsam ein Völlegefühl erzeugen. Die vorläufigen Ergebnisse allerdings sind, gerade bezüglich der erhofften Gewichtsabnahme, noch nicht eindeutig.
Auch für Urologen interessant
Eine ebenfalls neue Behandlungsmethode ist die Injektion des Gifts in die Prostata, wenn diese eine gutartige Vergrößerung aufweist - ein häufiger Befund bei Männern fortgeschrittenen Alters. "In den Vereinigten Staaten wurden erstmals Patienten behandelt, bei denen sich nach Verabreichung von Botulinumtoxin A die Harnflussrate um vier Milliliter pro Sekunde verbessert hat", berichtet Karl Sievert von der Urologischen Universitätsklinik Tübingen. "Wir empfehlen normalerweise einen chirurgischen Eingriff, wenn der Patient einen Harnfluss von 15 Millilitern pro Sekunde oder weniger hat. Eine solche jetzt beobachtete Verbesserung kann die Operation möglicherweise überflüssig machen." Im Tierversuch sei außerdem festgestellt worden, dass das Botulinumtoxin eine Apoptose, also einen plötzlichen Zelltod, verursacht: "Das bedeutet, dass man mit dieser Methode vielleicht die Möglichkeit hätte, die Prostata in sich zu verkleinern. Auch damit käme man vielleicht um Operationen bis zu einem gewissen Grad herum."
Gemessen an der potentiellen Gefährlichkeit des Giftes, halten sich die Komplikationen erstaunlicherweise in Grenzen. Dennoch plagt Ärzte grundsätzlich die Sorge, dass ein Teil des Toxins vom eigentlichen erwünschten Wirkungsort wegdiffundieren und dann schwere Schluck- oder Atemstörungen auslösen könnte. Bei der Behandlung von stark spastisch gelähmten Kindern beispielsweise starben bereits mehrere Patienten, nachdem man ihnen hohe Dosierungen in die Extremitäten injiziert hatte. Daraufhin schrieben die kanadischen Gesundheitsbehörden einen entsprechenden Warnhinweis auf den Ampullen vor.
Als Migränemittel im Test
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat seit 1993 rund 210 Berichte von Nebenwirkungen nach Botulinumtoxinanwendung registriert. In fünf Fällen wurde ein tödlicher Verlauf beschrieben. Allerdings, so schränkt das Institut ein, habe es sich dabei überwiegend um schwerkranke Patienten gehandelt: "In keinem dieser Fälle ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Anwendung von Botulinumtoxin sicher erwiesen." Aber es gibt neben medizinischen auch andere Gründe, die gegen Botulinumtoxin-Therapien ins Feld geführt werden: Zur Prüfung der Präparate und ihrer Wirksamkeit sterben in den Laboren pro Jahr 300 000 Mäuse einen qualvollen Tod durch Atemlähmung. Das beklagt jedenfalls die Tierschutzorganisation Peta.
Zu den Nutznießern der Therapie könnten andererseits bald auch Migränepatienten gehören. Momentan laufen nach Angaben des Allergan-Forschungschefs für Botox, Mitchell Brin, zwei große Studien mit Patienten, die an 15 oder mehr Tagen pro Monat von den Kopfschmerzattacken gequält werden. Welche Möglichkeiten sich in Zukunft noch ergeben mögen: Das Botulinumtoxin ist sicherlich ein Paradebeispiel für das Diktum des mittelalterlichen Mediziners Paracelsus, dass alles Gift sei und es nur auf die Dosierung ankomme.
Text: F.A.S.